„Liberalismus ist eine Realität – Anarchismus bleibt eine Ideologie für Engel“. Anmerkungen von Michael von Prollius zur kritischen Rezension von Stefan Blankertz zum Buch Mythos Anarchokapitalismus auf antibuerokratieteam.net.
Ich freue mich, dass Stefan Blankertz sich Zeit für eine Kritik unserer Streitschrift genommen hat. Ich schätze den Wahlberliner Wortmetz und habe stets seine Arbeiten beworben, darunter die Neuauflage des Libertären Manifests und Mit Marx gegen Marx. Besonders gelungen finde ich den Titel „Minimalinvasiv“.
Allerdings haben mich die Perspektiven über den Staat hinaus nicht überzeugt: für mich sind es Forderungen geblieben und Gedankenspiele, anregend durchaus, aber Konstrukte.
So geht es mir auch mit den nunmehr geäußerten Einwänden: spielerisch anregend, aber vor allem um den Kern herum geschlängelt.
Immerhin ist der Liberalismus zur Realität geworden; der Anarchokapitalismus hingegen schleppt eine Beweislast mit sich herum, die ihn unverändert darin hindert, die Hürde der Ideologie für Engel (und für Gauner) zu überspringen. Anarchokapitalismus ist keine theoretische und praktische Alternative – das zeigen die kritischen Einwände, die keine (neuen) Argumente für den Anarchokapitalismus liefern. Es gilt, was Henry Hazlitt in Is Politics insolulble? wie folgt formulierte:
Es ist schwer, nicht einige Sympathie für sie zu empfinden. Es ist wahrhaftig wohltuend, attraktive Bilder zu malen, wie eine ideal anarchistische Gesellschaft sein würde. Jedoch würden alle diese Träume mit nahezu sicherem Resultat zerschmettert werden. Wenn es keine etablierte Staatsführung geben würden, würde das Land durch Kriminelle und Gangster übernommen werden. Schlussendlich würde eine Gang ihre Rivalen unterdrücken oder ausradieren und diese Gang würde faktisch die neue Staatsführung werden. Sie würde systematisch Tribute von uns allen übrigen eintreiben, nur dass dies erst im Laufe der Zeit Steuern genannt werden würde. Kurzum, es ist unmöglich, eine friedliche Anarchie aufrechtzuerhalten, wenn nicht irgendeine Autorität konstituiert wird, die sie durchsetzt.
In unserem Buch gibt es zwei Untersuchungsperspektiven: die auf die Theorie und die auf die Praxis des Anarchokapitalismus. Zudem werden u.a. politikökonomische, historische, methodische und philosophische Argumentationen entwickelt; ich beschränke mich nachfolgend auf meine Zuständigkeit, die aus den namentlich gekennzeichneten Beiträgen des Bandes hervorgeht.
Stefan Blankertz wählt in seiner Kritik die tabellarische Übersicht als Ansatz. Dort sind die wesentlichen Positionen von Liberalismus und Anarchokapitalismus gegenübergestellt. Sein Vorgehen droht ein typisch deutsches Schicksal zu erleiden: Man schnappt sich eine Aussage, interpretiert sie so, wie es einem passt und kontrastiert die eigene Interpretation mit einer Kritik, die man schließlich dem Urheber vorhält. Nun, ganz so arg ist es nicht geraten, und ein gemeinsames Begriffsverständnis ist naturgemäß häufig eine Herausforderung, indes gehen die Gegenreden am Wesentlichen vorbei:
1. Die deontologische Moral des Anarchismus hängt mit dem Menschenbild des Anarchismus zusammen. Von Mises bis Hazlitt, von Dahrendorf und dem gesunden Menschenverstand bis zu Hobbes, Hume und Holcomb („The State is unnecessary, but inevitable“) lautet das Argument, die Anarchokapitalisten gehen von einem Menschen aus, den es nicht gibt, den es aber geben soll oder sogar muss, damit die friedliche Anarchie entstehen und bestehen kann. Mit Hazlitt ließe sich auch sagen, dass ein Menschenschlag bei den Anarchokapitalisten fehlt, der Typus des Kriminellen und Gangsters. Damit ist zugleich die Kritik am Non-Agressionsprinzip und der Auffassung, Sicherheit sei ein Gut wie jedes andere auch, erneuert, dem zentralen Axiom von Anarchokapitalisten.
2. Die Kritik am Recht, das es ohne Staat nicht geben kann, scheint zunächst einen Widerspruch aufzudecken, gehen wir doch selbst mit Hayek u.a. stets davon aus, dass Recht vorstaatlich ist und sich vom Gesetz unterscheidet. Wie kann es dann im Anarchokapitalismus kein Recht geben? Ganz einfach: Recht kann zwar entstehen, aber nicht durchgesetzt werden. Was bleibt dann vom Recht noch übrig? Ein unabgeschlossener Entstehungsprozess. Ein erster Schritt, dem kein zweiter folgt. Ohne Staat kann Recht nicht durchgesetzt werden, zumal es keine Trennung gibt in das, was Recht ist und das, was nicht als Recht gilt; es bleibt lediglich die Freiwilligkeit, das Bürgerliche Rechtsbuch anzuerkennen, weil es kein Bürgerliches Gesetzbuch gibt. Im Bereich des einen Sicherheitsunternehmens existiert das eine Recht, im Bereich des anderen ein anderes – ein gemeinsames Recht fehlt. Und wie soll es ohne gemeinsame Rechtssphäre eine öffentliche Sache geben? Wenn man sich nicht einmal darauf einigen kann, dass es notwendig ist, zu impfen, eine Armee aufzustellen, sich einem Gesetz zu unterwerfen, das Steuern und Abgaben für die Kanalisierung vorsieht, weil nur freiwillige und einstimmige Zustimmung zulässig ist.
3. Die Kritik an der Sezession richtet sich gegen die anarchistische Argumentation und Strategie einer Zersetzung und Atomisierung der Gesellschaft durch Abspaltung von alles und jedem, der abweichende Ansichten vertritt. Landsmannschaftliche Sezession ist, wie von Stefan Blankertz thematisiert, nicht der Punkt. Nicht der Punkt ist aber auch die lustige Volte, aus Mises per Sezessions-Zitat einen Anarchisten zu drechseln. Vielleicht lässt sich die Thematik filmisch erläutern. Charlie Anderson, gespielt von James Stewart, der sich auf seiner Farm am „Großen Fluss“ aus allem raushalten möchte, besonders aus dem Bürgerkrieg, hält ein großartiges Plädoyer über Eigentum und Selbstbestimmung. Seine Farm ist der familiäre Nukleus der Abspaltung, der Rückzug in die Gemeinschaft aus einer Gesellschaft – in strikter Verfolgung des Menschenrechts in Ruhe gelassen zu werden. Einsamer geht es nur als Mann in den Bergen in Gesellschaft von Tieren. Doch seine Söhne zieht es in den Krieg. Charlie Anderson scheitert tragisch und endet mit einer dezimierten Familie und einer misslungenen Sezession trotz bester Voraussetzungen.
Wirklich interessant wird es, sobald es ans Eingemachte geht, ums Konkrete, um historische Praxis, was indes leider kaum der Fall ist. Die Rede ist von Herrschaft und Gewalt sowie Sicherheit. Stefan Blankertz schreibt:
Man kann gut zeigen, dass die Kriege mit zunehmender Verstaatlichung und mit zunehmendem Anspruch der Zentralgewalt auf die Unterwerfung der Bevölkerung (zum Beispiel unter ein religiöses Bekenntnis) sich ausweiteten und die Gewalt brutaler wurde.
Da sind sie wieder, die Probleme des Anarchokapitalismus: Ein Blick in den Alten Orient genügt, um diese Diagnose als vollkommen unzutreffend zu beurteilen. Bereits vor der griechischen Antike wurde massenhafte gepfählt, geköpft, ganze Parteiungen wurden ausgelöscht, nur weil sie zur Gefahr für Herrscher werden konnten. Nicht der Staat ist das Problem, sondern die ungezügelte Herrschaft. Die Staatsphobie ist einerseits berechtigt – wer mit einem Fünkchen Freiheitsliebe wünscht sich schon einen Staat(sapparat)? – sie ist aber auch vollkommen fehlgeleitet. Das Problem ist die Herrschaft von Menschen über Menschen, die den Menschen nicht nutzt. Leider wird ein Herzstück des Buches ausgespart: Die Produktion von Sicherheit und das Entstehen von Staaten aus Gewaltmärkten.
Zu den anarchokapitalistischen Mythen gehört das gerne vorgebrachte Argument, es habe bisher nur gemischte Systeme aus Anarchie und Herrschaft gegeben, daraus könne keine Anarchie entstehen. Ich kann dieser Argumentation inzwischen etwas abgewinnen: Da es bisher kein herrschaftsfreies Zusammenleben von Menschen gegeben hat – und es auch nicht geben wird – ist der Anarchismus dazu verdammt, ein Mythos zu bleiben. Schade nur, dass stets die einfachste Antwort schuldig geblieben wird: Wie kann die Herrschaft von Menschen über Menschen abgeschafft werden? Das scheint mir die gleichsam sozialistische Achillesverse der Anarchisten zu sein. Den Staat durch Sicherheitsunternehmen ersetzen zu wollen, bleibt Etikettenschwindel.
Nun erscheint die Verbindung von „Roter Armee Fraktion“ und Anarchisten nicht mehr so abwegig. Landläufig gilt Anarchie als lebensgefährliche Unordnung mit großer Unsicherheit und ohne verlässlichen Schutz für den Einzelnen. Die Warnung vor den Anarchisten, die Europa vor der Jahrhundertwende terrorisierten und von denen Luigi Lucheni die Kaiserin Sissi mit einer Feile erstach, sind Legion. Das Hobbe’sche Argument, die Menschen müssten vor den wölfischen Übergriffen ihrer Mitmenschen geschützt werden, ist der Klassiker. Die radikale Umwälzung der Verhältnisse – gewaltsam – ist ein wesentlicher Teil der Entstehungsgeschichte des Anarchismus. Aus gutem Grund fürchten Menschen Anarchie.
Anarchismus ist eine politische Strömung des Extremismus. Extremismus bedeutet einerseits das Streben nach einer Aufhebung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und andererseits eine gesellschaftspolitisch maximale Entfernung vom Mainstream und Verortung am äußersten Rand des politischen Spektrums. Das ist der Hintergrund meiner Sorge, warum ich Anarchismus – von mir bekannten Ausnahmen abgesehen – für gefährlich halte.
Anarchismus läuft in letzter Konsequenz auf Gewalt hinaus; diejenigen, die unbeabsichtigt, weil Gewalt ablehnend, für Anarchie eintreten, führen Verhältnisse wie in Somalia, Libyen, No go Areas oder von der Mafia kontrollierten Gebieten herbei. Anarchie schafft Gewalträume. Anarchie nutzt den Mächtigen. Anarchie lässt illegitime Staaten entstehen. Es gibt auch diejenigen, die Feudalismus anstreben und sich das vermeintlich schicke Mäntelchen des Anarchismus umwerfen. Mancher Anarchist stammt aus dem kollektivistischen Lager.
Aufgabe der Freiheitsfreunde ist es, dem Leviathan immer wieder Fesseln anzulegen, ihn immer wieder auf seine Kernaufgabe zurückzuführen, den Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Bürger, die ihn dafür beauftragen. Aufgabe der Freiheitsfreunde ist es, den Leviathan an Recht und Ordnung zu binden. Zudem gilt es für Eigenständigkeit und Selbstverantwortung einzutreten – hier besteht eine Gemeinsamkeit zwischen Anarchokapitalisten und Liberalen: das unaufhörliche Aufklären und das Werben für ein selbstbestimmtes, mündiges, eigenverantwortliches Leben.
Ich freue mich darauf, einmal wieder ein persönliches Gespräch mit Stefan Blankertz zu führen. Dann werde ich ihm ein etwas verfremdetes Zitat vorlesen, von einem klugen Autor. Mal sehen, was er davon hält: Der Anarchokapitalismus…
… ließe sich bekämpfen, indem man auf die Wahrheit hinweise: Die ist eine Illusion, weil nicht Irrtum die Grundlage .. bildet, sondern Ideologie…
Stefan Blankertz müssen wir hier nicht mehr vorstellen. Michael von Prollius ist ist Gründer der liberalen Internetplattform Forum Ordnungspolitik, die er 2015 zum Forum Freie Gesellschaft weiterentwickelte.
Der Webmaster entschuldigt sich ausdrücklich bei beiden – und unserer werten Leserschaft – für die kleine illustrierende Collage . Der Teufel hat mir das gesagt 3:-)
„Immerhin ist der Liberalismus zur Realität geworden“. Den Satz (im Präsens, generalisiert) musst Du mir mal erklären Michael. „Der Markt“, ja – er ist ein zähes Vieh, der sich auch im Sozialismus immer und immer wieder durchsetzt (wenn auch manchmal agoristisch schwarz gekleidet). Aber „der Liberalismus“?!
Es ist ja unter Freiheitsfreunden völlig klar, dass es zahllose Missstände gibt, die wir mit Recht kritisieren. Lassen wir diese Missstände einmal beiseite und schauen auf unsere Welt heute – im Vergleich zur Welt von … sagen wir 1800. Die Ideen des Liberalismus sind heute nahezu überall wirksam und in unterschiedlichem Ausmaß realisiert: Von den Rechten des Individuums, die nicht durch die Geburt determiniert sind, und Schutz von Leib, Leben und Eigentum beinhalten über Gleichheit vor dem Recht, Rede-, Religions- und Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und keine Zensur, über den friedlichen Wechsel der Regierung, die nicht von Gottes Gnaden herrscht, über Marktwirtschaft und Freihandel … Wir leben weder im Feudalismus, noch im Sozialismus und auch nicht in einer Tyrannis. Nie war die Armut geringer in der Welt von heute, der Wohlstand größer. Die Herausforderungen für uns Freiheitsfreunde sind groß und sie wachsen, aber ich halte es nicht für abwegig, dass Hume, Smith, Kant lächeln – es ist das Lächeln der Liberalen angesichts der Erreichten.
Vor allem die „Sicherheitsunternehmen“ sind eine Fiktion. Es ist kein Zufall, dass die meisten Staaten Nationalstaaten sind, denn ohne eine zusätzliche, dann eher emotionale Bindung, haben sie kaum eine Zukunft. Das Beispiel USA spricht nicht dagegen – gerade da wird ja auf für hiesige Begriffe extreme Art und Weise ständig emotionale Bindung versucht herzustellen. Als Gegenbeispiel kann man höchstens noch die Schweiz gelten lassen, aber auch da herrscht im Kleinen Emotion (Stichwort „Röstigraben“), und das Große funktioniert nur, weil es im Kleinen weitreichende Souveränität gibt.
Fallen die Nationalstaaten weg, treten ganz andere Gebilde an ihre Stelle, und zwar zufällig (?) eben solche, die ihnen voran gingen: vor allem Clans und Religionsgemeinschaften – beide in der Regel sehr hierarchisch organisiert. Es ist im Gegenteil der moderne Staat, der es dem Individuum überhaupt ermöglicht, auf alle anderen sozialen Bindungen weitgehend zu pfeifen, und zwar nicht nur durch das Aufrechterhalten von Recht und Ordnung, sondern auch durch seine patriarchalisch-herrschende Hand. Ob das auf Dauer gut geht, ist eine Frage, die dann allerdings meist außerhalb von Liberalismus und Anarchismus gestellt wrid.
Viel Stoff zu weiterer Diskussion. Ein mir spontan wichtig erscheinender Aspekt zu der historischen Dimension: Welchen Zeitpunkt im „Alten Orient“ nimmst du, Michael, als einen vor-staatlichen an (zu welchem die genannten Grausamkeiten stattfgefunden haben). Bei der negativen Beurteilung des Hellenismus muss ich mich etwas verwundern, denn er gilt ja bei den meisten klassischen Liberalen als Goldenes Zeitalter (cf. Wilhelm von Humboldt). Was m.E. zu beobachten ist: 1. Die genannten Grausamkeiten haben in orientalischen Despotien und in den attischen Demokratien stattgefunden. Sie sind demnach nicht Kennzeichen eines politischen Systems, sondern eine Zeiterscheinung. 2. Die attischen Demokratien waren Staaten, keine Anarchie. 3. Wenn wir das antike Griechenland nehmen, ist zu sehen, dass mit der zunehmenden Verstaatlichung und Zentralisierung die Fähigkeit, ein „Reich“ aufzubauen (also nicht nur Kämpfe untereinander zu führen, sondern andere Völker und Staaten zu besiegen und zu inkorporieren), steigt (cf. Alexander der Große). Ebenso ergibt sich das aus dem Vergleich vom antiken Griechenland mit Rom (die ersten Jahrhunderte gab es dort ja auch eine Demokratie): Rom war von stärkerer Staatlichkeit gekennzeichnet und damit fähig zur Reichsbildung. Insofern sehe ich den historischen Verlauf im Hellenismus als konform mit meiner These.
Eine der besten Steilvorlagen, die ich bisher gelesen habe :)
1. Etatisten gehen von einem Menschen aus, den es nicht gibt, den es aber geben soll oder sogar muss, damit der friedliche Staat entstehen und bestehen kann. Mit Hazlitt ließe sich auch sagen, dass ein Menschenschlag bei den Etatisten fehlt, der Typus des Kriminellen und Gangsters. Damit ist zugleich die Kritik am Staat und der Auffassung, Sicherheit sei kein Gut wie jedes andere auch, erneuert, dem zentralen Axiom von Etatisten.
2. Recht kann zwar im Staat entstehen, aber nicht durchgesetzt werden, wenn eine Gruppe von Menschen das Gewaltmonopol hat und alle anderen wehrlos sind und auf Gedeih und Verderb diesem Gewaltmonopol untertan sind. Was bleibt dann vom Recht noch übrig? Ein unabgeschlossener Entstehungsprozess. Ein erster Schritt, dem kein zweiter folgt. Mit Staat kann das Recht einer Minderheit oder gar des Individuums nicht durchgesetzt werden, zumal es keine Trennung gibt in das, was Recht ist und das, was nicht als Recht gilt; es bleibt lediglich die Freiwilligkeit der Staatsfunktionäre, das Bürgerliche Rechtsbuch anzuerkennen, weil das bürgerliche Gesetzbuch dem öffentlichen Recht untergeordnet ist. Ein Recht das für alle gleichermassen gilt fehlt. Und wie soll es ohne gleiches Recht für alle Recht für alle geben? Wenn man das Individuum zu allem zwingen kann. ZB zu impfen, eine Armee aufzustellen, sich einem Gesetz zu unterwerfen das Zwangsabgaben sei es für die Kanalisierung vorsieht, sei es für ein Lotterleben der Funktionäre und ihrer Freunde, ist der Willkürherrschaft Tür und Tor geöffnet. Weil im Staat die freiwillige Zustimmung des Individuums durch Gewalt und Zwang ersetzt wird, ist jede Dienstleistung des Staates immer teurer, schlechter oder fällt ganz aus.
3. Und tatsächlich ist das Gewaltmonopol die fürchterlichste Waffe in der Hand des Starken und ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen. Es gab es in der Geschichte keine größeren Verbrechen gegen die Menschheit als eben von staatlichen Gewaltmonopolen und keine größeren Wohltaten als freiwillige Hilfe und freiwillige Solidarität von Privatpersonen oder privaten Organisationen
Lieber Stefan, Dein Argument lautete Kriege a) weiteten sich mit zunehmender Verstaatlichung und Zentralisierung aus und wurden b) brutaler.
Meine Entgegnung lautete: Kriege und systematische Gewalt sind kein Problem der Verstaatlichung und der Zentralisierung, sondern der ungezügelten Herrschaft.
Mein Beispiel „Alter Orient“ beinhaltet beispielsweise das Ringen der Völker bevor es zur Bildung des Perserreiches kam. Tom Holland hat das auf den ersten 100 Seiten von „Persisches Feuer“ anschaulich, aber sehr verdichtet dargelegt.
Grausamkeiten sind zeitlos. Jörg Baberowski, eine beachtenswerter Berliner Intellektueller, hat das zuletzt in „Räume der Gewalt“ eindringlich für die Neuzeit dokumentiert und theoretisch fundiert.
Athen und Sparta waren beide Kleinstgemeinwesen, die ihre Nachbarn malträtiert haben. Kämpfe, Kriege und Grausamkeiten gab es längst bevor Philipp II. und Alexander der Große zu Reichsbildungen ansetzten. Zugleich gingen Reichsbildungen mit Befriedungen im Innern einher, sogar interkulturell (Massenhochzeit von Susa). Die Diadochen bekriegten sich dann um das Erbe des Weltreiches.
Also, weder Brutalität noch Verstaatlichung stehen in dem von Dir postulierten Zusammenhang. Yuval Noah Harari hat übrigens in „Sapiens. A Brief History of Mankind“ die spannende These aufgestellt, dass der Homo Sapiens per Genozid alle zeitgleichen, konkurrierenden Menschenrassen ausgelöscht hat. => Anarchy unbound!
Nächster Punkt. »Immerhin ist der Liberalismus Realität geworden.« Wenn immer nur das realistisch und denkerlaubt wäre, was schon Realität geworden ist, wäre auch der Liberalismus nie zur Realität geworden. Denn auch er war einmal Idee, Vision, Utopie in dem Sinne, dass er noch keinen Ort hatte. Einerseits konnten die klassischen Liberalen sich auf eine gewisse Realität des frei gestalten persönlichen Umgangs und des Handelns beziehen, die sich außerhalb, unterhalb und gegen die staatlichen Strukturen herausgebildet (oder, je nach Perspektive, erhalten) hatten. Die Illusion eines »Ordoliberalismus«, dass nämlich es der Staat sei, der den (rechtlichen) Rahmen für freiwillige Kooperation und für den Markt zu setzen habe, konnte sich erst viel später bilden, als der Liberalismus vergessen hatte, dass er eine gleichsam natürliche (oder, mit Hayek: spontane) Ordnung gegen die staatlichen Eingriffe verteidigt hat. Andererseits ist der Liberalismus nirgendwo in einer »reinen« Form Realität geworden. Die weitestgehende Verwirklichung stellte die frühe nordamerikanische Republik da, die jedoch mit der sicherlich als antiliberal einzustufenden Institution der Sklaverei belastet war. Als dann die Sklaverei abgeschafft wurde, geschah dies nicht im liberalen Geist, sondern im Zuge einer Zentralisierung und Verstaatlichung sowie gekoppelt an die Verweigerung von Sezession. Die Re-Etatisierung, die nach der Epoche des klassischen Liberalismus eingesetzt hat, ist ein wichtiger empirischer Beleg für die Richtigkeit der anarchistischen Analyse, dass jeder Staat, auch der, der an einem Minimum beginnt, anwächst und die Freiheit immer mehr aufzehren wird.
Die gleiche Situation haben wir auch für den Anarchismus. Auf der einen Seite gehen wir in der Rekonstruktion der nicht-herrschaftlichen Basis der Gesellschaft weiter zurück als die meisten klassischen Liberalen. Mit der Theorie der »regulierten Anarchie« (Christian Sigrist) lässt sich erklären, wie Recht und Moralität vorstaatlich entstanden sind. Auf der Vorstaatlichkeit von Recht und Moral basiert implizit übrigens jede Vorstellung, die staatliches Handeln einer rechtlichen und moralischen Bewertung unterziehen (also bestimmte Staaten etwa als Unrechtsstaaten kennzeichnen) will. Diese »order without law“ (Robert Ellickson) hinterliegt auch heute noch allen substaatlichen sozialen Strukturen. Von der Sesshaftwerdung des Menschen, der Neolithischen Revolution (die sicherlich genauso wichtig, wenn nicht wichtiger war die Industrielle Revolution), als Voraussetzung für die Möglichkeit der Staatenbildung bis zur tatsächlichen Entstehung erster Staaten sind tausende von Jahren vergangen. Zunächst waren sie jedoch Randerscheinungen bezogen auf die ganze Menschheit. Auch später noch gab es historische Situationen, in welchen eine andere als die staatliche Richtung der Entwicklung hätte eingeschlagen werden können, für uns besonders wichtig die Zeit des europäischen Hochmittelalters und die der bereits genannten frühen nordamerikanischen Republik.
Ich halte also fest: 1. Dass etwas nicht ist, kann nicht als Beweis dienen, dass etwas nicht sein kann. 2. Der Liberalismus ist nicht einfach so »Realität«, sondern unterlag von Beginn an vielen Brüchen. Vielleicht ist er »mehr« Realität als der Anarchismus, aber der Unterschied in der Verwirklichung ist gradueller, nicht prinzipieller Natur. 3. Die Geschichte des realen Liberalismus ist die Geschichte des Scheiterns der Utopie des Minimalstaats.
Zwei Anmerkungen:
1. Zitat und These: “ Die deontologische Moral des Anarchismus hängt mit dem Menschenbild des Anarchismus zusammen.“ Hier scheint mit ein Denkfehler vorzuliegen. Der Autor zeichnet denn auch kurz darauf ein „Menschenbild des Anarchismus“, das überhaupt keiner deontologischen Moral bedürfte. In einer Welt voller Engel gibt es kein Sollen. Sondern ein Sollen (moralische Pflicht, kategorischer Imperativ, was auch immer) kann es nur geben, wo der Mensch, wie Kant sagt, aus krummem Holz geschnitzt ist, also in einer Welt, die der Autor die Realität nennt.
2. (zu einem der Kommentare) Wilhelm von Humboldt idealisierte nicht den Hellenismus, sondern die klassische griechische Antike, aber nicht vornehmlich im politischen, sondern im ästhetischen Sinne. Dabei galten die Griechen (natürlich nicht alle, sondern insbesondere die Tragiker, Epenschreiber, Lyriker, die Philosophen, Historiker, Bildhauer, kurz die griechischen Kulturschaffenden) als Individuen von paradigmatischer Bedeutung für Selbstbestimmung und Freiheit des sich in der Beschäftigung mit ihnen Bildenden, d.h. die harmonisch proportionierliche Ausbildung Betreibenden.
Dem Artikel kann ich sonst cum grano salis zustimmen, freilich sehe ich die liberalen Ideen nicht so weitgehend realisiert wie der Autor, und vor allem sehe ich sie deutlich auf dem Rückmarsch.
Corrigendum:
4. Zeile von unten nach „Ausbildung“ zu ergänzen: „der eigenen Kräfte“
Gerne nächster Punkt, läuft ja gut – für die Minimalstaatler ; )
Das Realitätsargument ist ein anderes und weist erneut auf den Kern des Anarchokapitalismus. Es lautet: Der Anarchokapitalismus ist keine Realität geworden und kann es in dieser Form nicht werden, weil er in den entscheidenden Fragen nichts Attraktives anzubieten hat. Bezeichnenderweise sind die Aspekte, in denen er sich vom Liberalismus und der aktuellen Gesellschaftsordnung abhebt, in denen seine Befürworter ihre Stärke sehen, die größte Schwäche. Und diese Schwäche ist so groß, dass ohne eine fundamentale Überarbeitung und vor allem Weiterentwicklung der Positionen … hihi … mit der Idee kein Staat zu machen ist.
Und einige dieser Ideen werden systematisch im „Mythos“ untersucht: Das Verhältnis zu Gewalt und Sicherheit, die Frage der Moral, das Menschenbild, die Entstehung von Staaten, das Herrschaftsbild. Das ist beim Liberalismus anders, der so attraktiv ist, dass er in vielfacher Form Alltag geworden ist. Natürlich ist das kein Selbstläufer und für die Freiheit muss täglich geworben, für sie eingetreten, sie abgerungen werden, weil es genug antifreiheitliche Profiteure gibt. Indes ist dieses Ringen das Kennzeichen menschlichen Zusammenlebens, eben das Ringen um konkurrierende Ideen und Ziele. Das Problem des Anarchokapitalismus ist, auch das habe ich im „Mythos“ angerissen, ist, dass er normalen Menschen kein Angebot machen kann. Und, auch wenn es uns beiden nicht gefällt, der Staat ist die bislang wohl (mit) erfolgreichste Institution der Menschheitsgeschichte.
Dank an Roberto Solano für die Bestätigung, dass Liberalismus und Anarchokapitalismus nicht vereinbar sind und dafür, das Anarchokapitalismus auf Zersetzung zielt. Mit dem Beitrag ist eine der Kernaussagen des Buches noch einmal anschaulich illustriert.
@ Klimax: Ich teile Ihre Sorge, was den Rückmarsch der liberalen Ideen betrifft – allerdings nicht, wenn ich mir die hunderte und tausende Students for Liberty anschaue. Wie ich in Berlin feststellen konnte, dem Augenschein nach durchweg kluge Menschen mit Charakter. Auch in der Hayek-Gesellschaft läuft die Verjüngungskur erfolgreich. In der Zeit als (nahezu allein) Roland Baader wirkte, gab es so etwas nicht, ein liberales Massenphänomen ist das ja schon fast. Und natürlich bedeutet die Tatsache, dass wir in Deutschland und Europa nie da gewesenem Wohlstand und mit einer Fülle von Freiheiten leben nicht, dass das so bleibt oder dass die Lage befriedigend wäre. Die Krisen sind augenfällig und ballen sich. Die Fronten der Freiheit werden nicht kleiner. Indes hilft schwarz sehen und schwarz malen auch nicht weiter. Wir müssen weiter mutig für die Freiheit Partei ergreifen.
Schöne Debatte hier :-) Michael von Prollius hat auf Forum Freie Gesellschaft noch einen weiteren Text dazu veröffentlicht. Seine Kritik an Hoppe – der den libertären Anarchismus, wie ihn Stefan Blankertz vertritt, in einen reaktionären Antietatismus der Militias und abgeschlossener „Eigentümergemeinschaften“ transformierte – teile ich ausdrücklich.
Ob wir eine Live-Debatte in Bamberg (evt. als gemeinsame Veranstaltung des Hayek-Clubs und von antibuerokratieteam.net, wie der #l1mba) hinbekommen… wird sich zeigen. Es ist natürlich auch eIne finanzielle Frage. Ich fänds gut und werde mal sehen, wie sich das organisieren liesse. Und wenn ned, dann machmers halt in Berlin. Mit Sascha Tamm haben wir ja einen unserer profiliertesten Autoren da sitzen :-)